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Informationen

Für Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen

Wohnungslose Menschen zwischen Selbsthilfe und Selbstorganisation

Die Selbsthilfe gehört zu den seltenen Begriffen, welche – trotz ihrer innewohnenden Paradoxie – eine glän-zende Karriere gemacht hat. Engagiert wird bundesweit diskutiert, welch hoher Stellenwert der Selbsthilfe zukommt. Flankiert werden Diskussionen nicht zuletzt von dem hingeworfenen Hinweis auf die Bezahlbarkeit und den notwendigen Abbau des Sozialstaats. In der Sozialarbeit ist sie zu einem zentralen Prinzip erhoben worden und hat mit dem Credo »Hilfe zur Selbsthilfe« einen herausragenden Platz gefunden in gesellschaftli-chem Verständnis und gesetzlichen Grundlagen. Hilfe wird all denen gewährt, bei denen besondere Lebensver-hältnisse derart mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, dass sie diese aus eigener Kraft nicht überwinden können (vgl. § 67 SGB II). Als Aufgabe der Sozialhilfe ist in § 1 SGB XII definiert, dass die Leistung so weit als mög-lich befähigen soll, unabhängig von ihr zu leben. Wohnungslose Menschen haben darauf nach ihren Kräften hinzuarbeiten.

 

Nicht selten werden wohnungslose Menschen als hilflose Spielbälle »unbeeinflussbarer Mächte« angesehen – und dementsprechend »behandelt«. »Fachleute« wissen, was gut und was schlecht für den Mensch in seiner Notlage ist. Wen wundert, dass sich diese Zuschreibung auch manche wohnungslose Menschen zu Eigen ma-chen. Ein Paradoxon springt ins Auge: Hilfe wird von anderen erwartet und nicht von sich selbst, weil es un-möglich scheint, sich in der Situation selbst zu helfen. Ist die Unmöglichkeit jedoch nicht absolut, müssen im Subjekt Teile vorhanden sein, welche nur nicht entdeckt werden konnten. Wenn das Potenzial von dem Subjekt entdeckt werden kann, ist es gar nicht so hilflos wie angenommen – und gipfelt in den Sozialarbeiterspruch: »Hilf dir selbst sonst hilft dir ein Sozialarbeiter«. Es liegt auf der Hand: Verborgene Ressourcen zu entdecken und zu aktivieren ist umso schwieriger, je absoluter die Armutslage ist, in der sich Menschen befinden. Davon können viele Mitarbeitende der Wohnungslosenhilfe berichten. Im Folgenden werden Selbsthilfeformen woh-nungsloser Menschen in das Blickfeld gerückt und der Frage nachgegangen, welche Anforderungen für die Weiterentwicklung der professionellen Hilfe für wohnungslose Menschen abzuleiten sind.

Traditionell herrscht in der Wohnungslosenhilfe (doch nicht nur dort) das Helfermodell des ärztlichen Handelns vor, bei dem der Klient Probleme und die Sozialarbeit die Lösung anbietet. Von der Helferseite wird auf den Hilfesuchenden eingewirkt und eine Veränderung erwartet. Die Beziehung ist therapeutisch oder pädagogisch. Die Helfer sehen sich in der Lage zu entscheiden, was gut und was schlecht für den Hilfesuchenden ist. Diese Defizitorientierung verdankt sich beruflicher Fürsorglichkeit. Sie sieht auf das was fehlt. Sie erwartet, dass mit dem Klienten etwas nicht in Ordnung ist und übersieht dabei bereits vorhandene Problemlösungsansätze. Dem wird – nach neuerem Verständnis - eine systemische Sichtweise gegenüber gestellt, welche das Verhalten des wohnungslosen Menschen versteht als von anderen Teilen und dem System als Ganzem mitbestimmt. Das setzt ein Verständnis der Lebenswelt des Hilfesuchenden voraus.

Lebensweltorientierung als Handlungsprinzip

Die Lebensweltorientierung ist das oberste Prinzip für Selbsthilfeprozesse. Die Lebenswelt ist der Ort, wo das Individuum oder die Gesellschaft handelt. Sie ist der Raum täglicher Aktionen der Menschen. Dieter Oelschlägel (2000) skizziert die Lebenswelt als Summe unserer Optionen, als »Möglichkeitsraum«, der aus der Schnittmen-ge von objektiven gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Welche Handlungsmöglichkeiten habe ich?) und der jeweiligen subjektiven Einschätzung und Interpretation des Individuums (Welche Handlungsmöglichkeiten sehe ich?) entsteht. Zur Erläuterung: Nicht alle Menschen, die ihre Wohnung verlieren, verfallen dem Alkohol und landen auf der Straße. Einige versorgen sich ohne fremde Hilfe mit eigenem Wohnraum, andere benötigen dafür professionelle Hilfe, wieder andere organisieren sich in Selbsthilfegruppen. Das bedeutet, dass Menschen objektiv unterschiedliche Lebensumstände haben und subjektiv unterschiedliche Lösungswege sehen bzw. nutzen. Selbsthilfe wohnungsloser Menschen, die in Eigeninitiative erfolgt oder professionell begleitet bzw. unterstützt wird - nach dem Motto: Mit wohnungslosen Menschen nicht für wohnungslose Menschen - kann nur dort erfolgreich sein, wo es gelingt, an den zentralen Themen der Menschen anzusetzen, egal, ob es als Betroffenheit, Frust, Wille oder Bedürfnis betitelt wird. Die Herausforderung für Soziale Arbeit besteht darin, Lebenswelten zu erfassen. Denn wer wohnungslose Menschen unterstützen bzw. befähigen will den eigenen Möglichkeitsraum zu erweitern, muss innerhalb ihrer Lebenswelt agieren. Die Lebenswelt ist daraufhin zu un-tersuchen, welche Möglichkeiten sie für die Menschen bereithält (um sie zu stützen, zu erweitern oder neu zu schaffen) und welche Behinderungen sie beinhaltet (um diese zu beseitigen oder zumindest zurückzudrängen).

Wohnungslosenhilfe ist Beziehungsarbeit und strukturelle Arbeit

Fachkräfte Sozialer Arbeit gehen nicht belehrend und pädagogisierend mit Erkenntnissen aus ihrer eigenen Lebenswelt vor, sondern vermittelnd, klärend und organisierend. Es gilt, den Lebensalltag wohnungsloser Men-schen zu unterstützen durch Ressourcenarbeit im weitesten Sinn. Das kann einerseits individualisierend sein durch Beziehungs- bzw. Beratungsarbeit im Sinne der Erweiterung persönlicher oder sozialer Ressourcen, kann andererseits strukturelle Arbeit sein durch die Erweiterung infrastruktureller bzw. materieller Ressourcen. Sozi-ale Arbeit greift zu kurz, wenn sie sich dabei auf Beziehungsarbeit reduziert und gebetsmühlenartig Hilfe zur Selbsthilfe beschwört, dann aber die einzelne Person oder Hilfesuchende alleine lässt wenn es darum geht, notwendige Grundlagen zu schaffen (z.B. kommunikative Treffpunkte usw.). Ziel sozialer Arbeit ist die Verbes-serung von Lebensqualitäten in benachteiligten Lebenswelten. Das beinhaltet - immer mit dem Blick auf Res-sourcen - sowohl Beziehungsarbeit als auch strukturelle Arbeit.

Selbsthilfe ist systemimmanent

Eine Lebenslage, die von Armut, sozialer Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit geprägt ist, erzwingt Formen der Selbsthilfe zum (Über-) Leben ohne Wohnung und gesicherte Existenzgrundlage. So gesehen ist Selbsthilfe der Betroffenen nicht neu. Selbsthilfe ist systemimmanent. Dabei wird wohnungslosen Menschen selbst in Helfer-kreisen gerne unterstellt, sie bedürfen ständiger Fürsorge und Hilfe, sie seien unfähig zur Selbsthilfe. Doch scheint, dass dies Inhalte individualistischer Zuschreibungen sind. Allerdings existiert sie auf der Basis von Ohnmacht, Selbstverleugnung, Übernahme der zugewiesenen sozialen und persönlichen Defizite und Rollen. Formen der Selbsthilfe werden in der Regel mit negativen Vorzeichen wahrgenommen und gewertet, was der »Selbsthilfekarriere« der Betroffenen grundsätzlich eine negative Dynamik, etwa zum sog. »Nichtsesshaften« verleiht. Entsprechend eingeschränkt gestaltet sich der Blick auf Formen der Selbsthilfe.

Individuelle und gemeinschaftliche Selbsthilfe

Tendenzen zur Individualisierung des Selbsthilfegedankens sind unverkennbar. Diese Individualisierung birgt die Gefahr, dass der emanzipatorische Charakter verloren geht. Selbsthilfe meint nämlich auch den gemeinsa-men Prozess der Bewusstwerdung als Gruppe der Ausgegrenzten, als Voraussetzung für eine politische Artiku-lation sowie parteiliche und nicht-individuelle Interessenvertretung wohnungsloser Menschen für das Recht auf Existenzsicherung, Wohnen und Arbeit. Gleichwohl sind unterschiedliche Formen der Selbsthilfe erkennbar. Selbsthilfe meint das Prinzip, eigene Probleme aus eigener Kraft bzw. gemeinsame Probleme mit gemeinsamer Anstrengung zu lösen. Die individuelle Selbsthilfe des Einzelnen wäre demnach z.B. das Bemühen zum Überle-ben in einer Stadt wie Betteln, die gemeinschaftliche Selbsthilfe z.B. der Zusammenschluss als Handwerker-gruppe, die ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anbietet. Gemeinschaftliche Selbsthilfe in der Gruppe ist ein Weg, aus der schwierigen persönlichen und sozialen Lage heraus eigene und andere Lebensperspektiven zu entwickeln. Das System der Wohnungslosenhilfe wird sich bei der Förderung der Selbsthilfe fragen lassen müs-sen, was es über die aktuelle Nothilfe hinaus zur Verbesserung der Lebenssituation wohnungsloser Menschen an Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten hat. Individuelle Hilfe zur Selbsthilfe könnte, um bei dem Beispiel zu bleiben, ein ausgegebener Schlafsack sein, der dem unbehausten Menschen aufgrund des persönlichen Mangels ein Überleben ermöglicht, gemeinschaftliche Hilfe zur Selbsthilfe z.B. die Zur-Verfügung-Stellung von Handwerks-geräten oder die Vermittlung von Aufträgen.

»Die Landespolizei in Überlingen hat auf eine Anzeige hin einen 56 Jahre alten Buchdrucker aus Halber-stadt festgenommen, der mit einer seltsamen Visitenkarte betteln ging. Anstatt des üblichen Sprüch-leins gab er an der Tür jeweils ein rosarotes Kärtlein ab, auf dem folgender sinnige Spruch geschrieben stand: ›Besten Dank für die zwei Groschen! Sie sind hiermit Mitglied der Schweizer Armee. Ihre kleine Spende wird zum Kauf von Waffen und Munition verwendet; damit werden die Löcher in den Schweizer-käse geschossen. Seien Sie kein Limburger und machen Sie keinen unnötigen Stunk um die zwei Gro-schen! Holen Sie dieselben auf die gleiche Weise zurück, wie ich es tat! ‹«. (DER WANDERER 1962, S. 31)

Bekannte Beispiele für gemeinschaftliche Selbsthilfe aus der Vergangenheit sind die Selbstorganisation als Bruderschaft der Vagabunden Anfang dieses Jahrhunderts oder das Erste internationale Vagabundentreffen vom 21. bis zum 13. Mai 1929 in Stuttgart, die gleichzeitig stattfindende erste Vagabunden-Kunstausstellung in Stuttgart oder - als weitläufiger Vorläufer der heutigen Straßenzeitungen - »Der Kunde«, die um die damalige Zeit kursierende Zeit- und Streitschrift der Vagabunden. Weitere gemeinschaftliche Selbsthilfeformen, die in die neuere Zeit hineinreichen, ist der von einer Berberinitiative organisierte Erste Stuttgarter Berberkongress am 12. und 13. September 1981, die von der Initiativgruppe herausgegebene Zeitschrift »Der Berber«, in welcher Betroffene und Initiativenvertreter zu Wort kommen, (auf Initiative von SozialarbeiterInnen) die Gründung einer Bundesbetroffeneninitiative wohnungsloser Menschen 1991 in Berlin oder der in Selbstinitiative entwi-ckelte und herausgegebene »Berber-Brief«. Beispiele aus der Vergangenheit, die uns den Blick auf aktuelle For-men der Selbsthilfe erleichtern und für den gesellschaftlichen Umgang mit Selbsthilfe schärfen sollen.

Unter dem Motto »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott« gründeten 1994 zehn Männer einer Obdachlosenunterkunft in einer hessischen Stadt, denen durch Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit die soziale Ausgrenzung drohte, in Eigenregie die Dienstleistungsfirma »Obdachlosen-Initiative GbR« mit einem ausgewiesenen Tätigkeitsfeld rund ums Haus. Zu der Angebotspalette gehörten: Garten säubern, handwerkliche Tätigkeiten, Kleintransporte, Entrümpelungen und vieles mehr. Dies erfolgte in einer Lebenssituation, in der wohnungsloser Menschen, de-nen in vielerorts individualistischer Nabelschau Antriebslosigkeit, Arbeitsflucht, Selbstverschulden etc. unter-stellt wird, bundesweit von Kommunen in zum Teil schäbigen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht wer-den. Gerechtfertigt wird die unterlassene Hilfeleistung (wer wohnungslos wird und sich mit der Bitte um Hilfe - nämlich eine Wohnung - an die zuständige Behörde wendet, erhält statt dessen als Hilfeangebot in der Regel die zeitlich befristete Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft) mit der unterstellten Wohn- und Bin-dungsunfähigkeit wohnungsloser Menschen. Nur wer sich »bewährt«, erhält die perspektivische Chance auf eine bessere Unterbringung bzw. eine eigene Wohnung. Umso höher ist vor diesem Hintergrund zu bewerten, dass wohnungslose Menschen trotz ihrer elenden Wohn- und Lebenssituation Selbstorganisationsformen ent-wickeln und damit gängigen Klischees und Vorurteilen widersprechen.

Ignorieren von Selbsthilfe

Eine Form des Umgangs ist das Ignorieren der Selbsthilfe. Je nach wissenschaftlicher Schule, wird die Lebensla-ge wohnungsloser Menschen verkürzt auf pädagogische, soziologische, ökonomische usw. Fragestellungen und Ergebnisse. Geschildert wird, dass wohnungslose Menschen älter, schwächer, physisch und psychisch kranker, oder dass sie immer jünger, therapieresistenter, aggressiver und gefährdeter werden. Unterstellt wird eine Dynamik, die, so man sie ernst nimmt, den Betroffenen übernatürliche Fähigkeiten unterstellt, um ein Über-maß an Krankheit und Defiziten zu ertragen. Das Beschriebene entspricht konkreten Erfahrungen, doch ist zu-mindest zweifelhaft, ob es das Bild wohnungsloser Menschen ist. Denn die Gemeinsamkeit aller Beschreibun-gen liegt in der Distanz zu Betroffenen, die es dem Betrachter ermöglicht, Formen der Selbsthilfe zu übersehen.

Stationäre Einrichtungen beklagen einen Belegungsrückgang. Auf der anderen Seite verbleibt die Anzahl woh-nungsloser Menschen auf einem hohen Niveau. Es ist offensichtlich, dass sich wohnungslose Menschen zum Teil effektiver mit Unterkunftsmöglichkeiten versorgen, als es der Stadt oder der freien Wohlfahrt möglich ist. Ähnlich verhält es sich in jüngster Zeit mit Hilfeangeboten der Ambulanten Hilfe. Zurückgehende Besucher- und Beratungszahlen sind nicht nur ein Hinweis auf einen Mangel an Bedarfsorientierung, sondern auch auf zunehmende Formen sich etablierender Selbstorganisation und Selbsthilfe. Betroffeneninitiativen lokale Initia-tiven oder die Bundesinitiative wohnungsloser Menschen, lange Zeit übersehen im Schatten der professionellen Hilfe, drängen zunehmend auf erkennbare Formen der Hilfe zur Selbsthilfe, von der Bereitstellung von Räumlichkeiten über Ausstattungs- und Kommunikationsmittel bis hin zu Beteiligungsformen an Entschei-dungen.

Um-Interpretation von Selbsthilfe

Eine weitere Form, Selbsthilfe von Betroffenen zu leugnen, ist deren Um-Interpretation. Wenn sich wohnungs-lose Menschen aus Folien, Kisten, Hölzern etc. ihre »Platte« bauen, sich folglich Schutz vor Regen und Kälte schaffen, wird diese Tätigkeit nicht verstanden als eine Form der Selbsthilfe, sondern uminterpretiert als Ord-nungswidrigkeit, zu deren Verhinderung und Beseitigung die Ordnungsbehörde gerufen wird. In viel ausge-prägterem Maß als dies während der »guten Jahre« der Bundesrepublik der Fall war, werden - im Besonderen in großen Städten - die exklusiv erwünschten Innenstadtbesucher bei ihrer Einkaufstour mit unterschiedlichen Formen des Bettelns konfrontiert. Die Augen sind nicht mehr zu verschließen vor der unbehausten Armut. Bun-desweit ähneln sich die Reaktionen auf diese Form der Existenzsicherung. Als Störer der öffentlichen Ordnung interpretiert, werden die ausgewählten Störer aus den Innenstädten vertrieben. Als Rechtsgrundlage werden auf rechtlich umstrittene Formen mit heißer Nadel Sondernutzungsverordnungen zur Vertreibung von »miss-liebigen« Personen gestrickt, Bettlersatzungen erlassen oder ganze Innenstadtbereiche zur privaten Zone er-klärt. Die Unterbringung von Flüchtlingen aus Katastrophengebieten in der eigenen Wohnung oder dem eige-nen Haus gilt als humanitärer Akt zur Behebung der sozialen Not, selbst wenn dafür als Entschädigung zum Teil horrende Gelder abverlangt werden. Nimmt ein ehemals Wohnungsloser einen wohnungslosen Menschen auf und rettet ihm dadurch vielleicht das Leben, gilt es als anstößig und eben nicht als konkrete Selbsthilfe, sondern wird aus dem Blickwinkel von Pädagogen als nicht gelungene Ablösung vom Milieu betrachtet. Allen Schilderungen und Beispielen ist gemeinsam, dass sie - z.B. durch die Verkürzung der Wahrnehmung - auf Dis-tanz gehen zu Betroffenen und Phänomene aus der Praxis übersehen oder geleugnet werden.

»Einen 29 jährigen Landstreicher, der sich für den Winter einen Gefängnisaufenthalt erschlichen hatte, verurteilte das Essener Schöffengericht wegen Betrugs und Deliktvortäuschung zu neun Monaten Ge-fängnis. Der Mann hatte sich im Herbst auf einer Polizeiwache gemeldet und behauptet, er habe im Sommer auf der Autobahn zwischen Bremen und Hamburg als Anhalter einen Autofahrer überfallen und beraubt. Prompt kam er hinter Schloss und Riegel. Schließlich gab der Landstreicher kleinlaut zu, dass er sich nur für den Winter ein sicheres Quartier beschaffen wollte. Ob der die jetzt verhängten neun Mona-te Gefängnis im nächsten Winter absitzen darf, wurde vor Gericht nicht gesagt.« (DER WANDERER 1963, S. 54)

Verkennung von Selbsthilfe

Eine strukturelle Form, Selbsthilfe zu verkennen, liegt in der Organisation des Hilfesystems selbst begründet. Selbsthilfe setzt voraus, dass bei Betroffenen Fähigkeiten vorhanden sind, die sie in die Lage versetzen, ihre sozialen Schwierigkeiten selbst zu überwinden. Das Hilfesystem für wohnungslose Menschen sollte darauf ausgerichtet sein, Selbsthilfeformen zu unterstützen. Das Ziel der Sozialhilfe besteht u.a. darin, die Hilfesu-chenden bei der Realisierung ihres Selbsthilfepotentials zu unterstützen und zu beraten. Doch das Hilfesystem ist gekennzeichnet durch widersprüchliche Hilfeangebote und Botschaften mit desorientierenden Wirkungen auf die Betroffenen. Oftmals steht die organisierte Hilfe mit traditionellen Arbeiterkolonien, verwahrenden stationären Einrichtungen, Obdachlosenunterkünften, Übernachtungsheimen, Wohnheimen mit »Arbeits-zwang«, sozialtherapeutischen Einrichtungen, Einrichtungen mit beginnender Selbstversorgung und Mitbe-stimmung von Betroffenen, Fachberatungsstellen, Teestuben, Tageswohnungen, eigenständigen Selbsthilfe-gruppen etc. zusammenhanglos nebeneinander. Darüber hinaus scheitert Selbsthilfe oft auch daran, dass Maßstäbe der Selbsthilfe dem mittelschichtorientierten Denken entspringen und dabei völlig unbeachtet bleibt, dass eine extreme Unterversorgung und Benachteiligung vorliegen, die Selbsthilfe ohne professionelle Fremdhilfe dem Grunde nach ausschließt.

Auf Initiative und unter Federführung von drei wohnungslosen Männern wurde 1994 der Selbsthilfeförderver-ein Arbeit und Wohnen gegründet. Neben einer Holzwerkstatt, einem durch ehemalige wohnungslose Men-schen verselbständigten Trödelladen, einem Bauprojekt zur Unterbringung von Menschen in Wohnungslosig-keit, sowie einer Straßenzeitung wurden Formen der Selbsthilfe entwickelt, welche nicht zuletzt von der organi-sierten Wohnungslosenhilfe und kommunalen Interessenvertretern geflissentlich übersehen wurde. Das Bau-projekt zur Unterbringung wohnungsloser Menschen scheiterte schließlich nicht am vorhandenen Geld son-dern vielmehr daran, dass von den bundesweit angeschriebenen fünfzig Kommunen keine Bereitschaft vor-handen war, Grundstücke zur Bebauung zur Verfügung zu stellen. Ein Paradoxon, wenn man sich vor Augen führt, dass ein wesentliches Ziel der Hilfe die Hilfe zur Selbsthilfe ist. Auf der anderen Seite erwarten ebendiese Vertreter von Betroffenen sichtbares Engagement als Selbsthilfe. Doch bevor Hilfesuchende dauerhaft im Zu-ständigkeitsbereich der Kommune verbleiben wird in Kauf genommen, dass wohnungslose Menschen auf Trapp gehalten werden. Auch so lässt sich Wasser predigen und Wein trinken.

Die Beispiele zeigen auf, dass wohnungslose Menschen sehr wohl in der Lage sind, sich selbst zu organisieren und ihre Forderungen verständlich mitzuteilen. Die Reihe der Beispiele ließe sich z.B. auch durch die Aktionen und Publikationen der Bundesbetroffeneninitiative wohnungsloser Menschen beliebig fortsetzen. Die Sozial-wissenschaften und sozialen Berufe haben dies jedoch nur zum Teil mitbekommen. Die Wohnungslosenhilfe insgesamt wird sich immer drängender mit der Frage auseinandersetzen müssen, was geschehen kann und soll, wenn die Selbsthilfe der Betroffenen und das darin liegende Potenzial unter einem positiven Vorzeichen gesehen und deren Umsetzung ermöglicht wird. Das bedeutet den Versuch zu unternehmen, sich in ein ande-res Verhältnis zu den Betroffenen zu setzen.

Notwendige Handlungsschritte

Der Appell an die Selbsthilfekräfte und Selbstverantwortung muss eine Entsprechung finden in dem Angebot an Partizipationschancen und damit Einflusschancen auf politische Entscheidungen, die den Menschen in ihrer Lebensgestaltung berühren. Wer fragt – ernsthaft – Hilfesuchende was und im Besonderen wie sie etwas wol-len? An der Sicherstellung der Grundvoraussetzungen und deren Umsetzung wird sich die professionelle Hilfe für wohnungslose Menschen in Zukunft messen lassen müssen. Besonders arme Menschen beurteilen soziale Einrichtungen und vor allem die Menschen, die dort arbeiten, nach dem Nutzen, den sie sich versprechen. Ist der Nutzen für sie nicht erkennbar, bleiben sie weg. Zu nützlichen Dienstleistungen, welche die Selbsthilfepo-tenziale fördern können, gehören als materielle Ressourcen z.B. Räume, Kopierer, Email-Anschluss, Telefon, billiges Mittagessen, Fahrten zu Ämtern etc. Als personelle Ressourcen gelten Beratung, anwaltliche Tätigkeit, Zeit haben, Zuhören etc. Als infrastrukturelle Ressourcen sind z.B. Orte zu bezeichnen, wo man informelle Sozi-albezüge aufnehmen und sich organisieren kann oder Orte, an denen sich Menschen treffen können, auch wenn sie sich »anders« als gewohnt verhalten.

Anforderungen an Soziale Arbeit

Die Unterstützung von Selbsthilfeansätzen und eigener Lebensgestaltung setzt voraus:

 

  • die Fähigkeiten zum Überleben auf der Straße als Selbsthilfe anzuerkennen 
  • die Bereitstellung materieller, infrastruktureller und persönlicher Mittel und Ressourcen
  • kontinuierliche und überschaubare Entwicklung des Hilfesystems
  • die Sicherstellung professioneller Fremdhilfe
  • die Ablösung mittelschichtorientierter Vorstellungen zur Selbsthilfe
  • den defizitorientierten Blick zu ersetzen durch einen ressourcenorientierten Blick, folglich darauf, was bei dem Menschen an Selbsthilfepotenzial vorhanden ist und verstärkt  - Ressourcen im Lebensumfeld Woh-nungsloser einbeziehen z.B. durch Vernetzung und Kooperation
  • sozialräumlicher Konzepte zu entwickeln, welche die Quartiere verstärkt in den Blick nehmen, in denen Probleme wachsen und sich zur Wohnungslosigkeit steigern können
  • nicht für wohnungslose Menschen zu handeln sondern mit ihnen
    Ansätze von Selbsthilfe und eigener Lebensgestaltung auch dann zu achten, wenn diese Zugänge und Lö-sungsansätze fachlichen und formalrechtlichen Standards zunächst widersprechen
  • anzuerkennen, dass wohnungslose Menschen am besten wissen, was gut und was schlecht für sie ist. Sie sind die Experten ihrer eigenen Lebenssituation und verantwortlich für ihr Leben und ihre Entscheidungen
  • Die Achtung der Selbstbestimmung und Mündigkeit wohnungsloser Menschen in allen Lebensbereichen, sowohl bei der Definition des Hilfebedarfs wie bei der Inanspruchnahme der Hilfen im Sinne eines Wunsch- und Wahlrechts.

 

 

Inhaltlich befindet sich die Förderung der Selbsthilfe in unmittelbarer Nähe zum Kommunitarismus. Dabei geht es um die Entwicklung neuer Verantwortlichkeiten und Nachbarschaften im Sozialraum, die Nutzung informeller Beziehungen, die Förderung von Netzwerken etc. Neben der Fähigkeit zur Eigenkompetenz und Selbstorganisation gilt es, auch die Fähigkeit zur Partizipation zu entwickeln (durchaus vor dem Hintergrund der Selbst-sorge, gestaltet als Integration und Prävention), die z.B. Arbeitsprojekte, Nachbarschaftsprojekte, Einkaufsge-nossenschaften umfasst und vernetzt bis hin zur Vergabe von Kleinkrediten Gruppen von Armen, die sich ge-genseitig als Netzwerk fördern und stützen. Die Rolle der professionellen Hilfe als Unterstützer und Begleiter wäre eine zukunftsorientierte Aufgabe.

Literatur

Gillich, Stefan und Nieslony, Frank (2000): Armut und Wohnungslosigkeit: Grundlagen, Zusammenhänge und Erscheinungsformen, Köln (vergriffen - zu beziehen über den Autor unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)
DER WANDERER (1962): Hilfe für Nichtsesshafte, Straffällige, Süchtige und sonstige Gefährdete, Vierteljahres-schrift Beilage der »Blätter der Wohlfahrtspflege«, Juli 1962 Nr. 2, Neue Folge, S. 31-32
DER WANDERER (1963): Hilfe für Nichtsesshafte, Straffällige, Süchtige und sonstige Gefährdete, Vierteljahres-schrift Beilage der »Blätter der Wohlfahrtspflege«, August Nr. 3, Neue Folge, S. 54
Oelschlägel, Dieter (2000): Vernetzung und Ressourcenbündelung im Gemeinwesen, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 51. Jg., Heft 1, S. 16-20

Hinweis

Der Artikel erschien erstmalig unter dem Titel »Selbsthilfe wohnungsloser Menschen: Ein strapazierter Begriff macht Karriere« in der Zeitschrift »Soziale Arbeit« Heft 10/2010.
http://www.dzi.de/sozialea.htm

Autor

Stefan Gillich ist Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Pädagoge, sowie langjähriger Dozent im Burckhardthaus Gelnhausen. Außerdem ist er Referent für Gefährdetenhilfe im Diakonischen Werk Hessen und Nassau, Frank-furt/M. und sitzt im Vorstand des Fachverbandes Ev. Obdachlosenhilfe.

Kontakt:
Stefan Gillich
Referent für Gefährdetenhilfe
Diakonisches Werk Hessen und Nassau
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