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Für Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen

Allein auf der Parkbank

„Man muss höllisch aufpassen, wenn man auf der Straße lebt“, sagt die Obdachlose Corinna Beyer. Jeden Abend, wenn sie sich schlafen legt, sitzt die Angst neben ihr.

Und immer, bevor sie die Augen schließt, fragt sie sich: Werde ich morgen früh noch am Leben sein? Wird mich in der Nacht jemand vergewaltigen?

Ein schutzloses Einschlafen ist das allabendlich. Auf einer Parkbank. Unter einer Brücke. In einem Parkhaus. „Man hat jede Nacht, jede Sekunde Angst um sein Leben. Man schläft nur mit einem Auge, das andere bleibt immer offen“, sagt die 33-Jährige.

Seit 15 Jahren ist Corinna Beyer obdachlos. Als sie 18 Jahre alt war, floh sie vor der Gewalt ihres damaligen Freundes auf die Straße. Ihren kleinen Sohn ließ sie zurück, sie hat nie wieder von ihm gehört. Bei ihrer Flucht hatte Corinna Beyer nichts am Leib außer Turnschuhen, einer Jogginghose und einem T-Shirt. In dieser kalten Januarnacht hat sie zum ersten Mal erfahren, was es bedeutet, ganz erbärmlich zu frieren. Eine Erfahrung, die sich seither oft wiederholt hat. Und der Schmerz der Kälte und der Einsamkeit ist auch nach so vielen Jahren nicht besser geworden.

Auch an das Gefühl des Hungerns hat Corinna Beyer sich nie gewöhnt. Zwar stehen ihr nach dem Sozialgesetzbuch 11,96 Euro Tagessatz zu, doch da sie Schulden habe, fließe das Geld in die Tilgung derselben. Bei den Schulden handle es sich um Geldstrafen für begangene Straftaten. Wenn sie die nicht bezahlt, müsse sie die Strafen im Gefängnis absitzen, sagt sie. „Und da hungere ich lieber.“ Schon einmal sei sie eingesperrt gewesen, im Frauengefängnis Schwäbisch Gmünd. Und das wolle sie kein zweites Mal erleben. Damals saß sie wegen zahlreicher Delikte wie Schwarzfahren, Diebstähle und Körperverletzung. „Ich habe gestohlen, weil ich Hunger hatte. Und schwarzgefahren bin ich, weil ich kein Geld für eine Fahrkarte hatte. Und die Körperverletzung habe ich begangen, weil ich mich wehren musste“, sagt Corinna Beyer in einem Ton, als schäme sie sich für ihre Straftaten. „Natürlich ist mir das peinlich“, räumt sie ein. „Aber was soll ich denn machen?“

Wenn man auf der Straße etwas lerne, dann, dass man keinem Menschen vertrauen kann. „Man kämpft alleine, auf der Straße gibt es keine Solidarität.“ Und auch bei vermeintlichen Freunden gelte es, vorsichtig zu sein. „Ehe man sich's versieht, ist der Schlafsack weg oder die Isomatte. Und solche Dinge sind schwer zu bekommen.“

Corinna Beyer lebte zunächst zehn Jahre in Überlingen, dann im Raum Radolfzell auf der Straße. Zwischendurch fand sie immer wieder Unterschlupf in Wohngemeinschaften. Doch auch dort machte sie schlechte Erfahrungen, wurde Opfer sexueller Übergriffe. Dann lernte sie ihren zweiten Freund kennen und wurde wieder schwanger. Als sie im achten Monat war, ließ der Mann sie sitzen, und das Kind, das Corinna Beyer zur Welt brachte, war zu 80 Prozent schwerstbehindert. „Ich kam einfach nicht mit dem Kind klar, also habe ich es in eine Pflegefamilie gebracht und bin wieder auf die Straße geflohen.“

Die Straße als Zuflucht? Ja, sagt Corinna Beyer, denn so schwierig das Leben „auf Platte“ auch sei, so sei man doch frei und unabhängig.

Momentan lebt sie im Obdachlosenheim Jakobushof in Radolfzell-Böhringen. Es ist ihr dritter Versuch, durch einen Aufenthalt im Obdachlosenheim langsam wieder im normalen Leben Fuß zu fassen. Das erste Mal hat sie die Flucht ergriffen. Der geordnete Tagesablauf, die Pflicht, das Zimmer sauber zu halten, das Achten auf pünktliches Erscheinen bei der an das Heim angegliederten Arbeitsstelle – all das wurde Corinna Beyer zu viel, und sie ist wieder auf die Straße gegangen Während ihres zweiten Aufenthalts habe sie sich mit ihren Mitbewohnern gestritten und sei von der Heimleitung gebeten worden, zu gehen, sagt Corinna Beyer. Und nun der dritte Versuch. „Mal schauen, was draus wird.“

Trotz aller Schwierigkeiten, sich nach 15 Jahren auf der Straße in einem geordneten Leben zurechtzufinden, träumt Corinna Beyer den Traum einer eigenen Wohnung. Einem Schutzraum, in dem sie unangreifbar ist, einem Ort, an dem sie ohne Angst schlafen kann. „Aber ich habe wohl kaum Chancen. Wenn ich gefragt werde, wo ich bisher gewohnt habe, und ich sage, auf der Straße, dann ist der Zug schon abgefahren.“

Gibt es außer diesem Traum von einem normalen Leben etwas, woran sich Corinna Beyer aufrichten kann? Etwas, das ihr Kraft gibt? „Da ist nichts. Da ist einfach nichts“, antwortet die Obdachlose. Trotzdem macht sie keinen trostlosen oder niedergeschmetterten Eindruck. Sie wirkt wie ein Mensch, der sich mit seiner Situation abgefunden hat und versucht, das Beste daraus zu machen. Eine Frau, die sich nicht lange mit Klagen aufhält, sondern die einfach schaut, wie sie ihren Alltag bewältigen kann, ohne allzu sehr hungern oder frieren zu müssen. Und ohne sich in Gefahr zu bringen.

Worüber sie sich allerdings sehr freuen würde, wäre ein Lächeln, ein liebes Wort von einem der vielen fremden Menschen, die Tag für Tag an ihr vorübergehen. Ein solches Lächeln hat Corinna Beyer noch nie bekommen. „Das würde so guttun. Aber das macht keiner. Gar keiner. Sie senken den Blick, gucken weg oder man hört sie tuscheln“, sagt sie. „Am Anfang tut es weh, dass sie einen verurteilen, ohne nach dem Hintergrund zu fragen. Aber irgendwann prallt es ab. Man baut eine Mauer um sich rum.“

Quelle: Südkurier vom 11.3.2011