Wohnungslosigkeit gehört zu den Phänomenen in Deutschland, über die in der Öffentlichkeit – und leider auch in der Politik – nur wenig bekannt ist. Mit wohnungslosen Menschen werden meist ältere, ungepflegt wirkende Männer mit Schnapsflasche auf einer Parkbank assoziiert, dabei machen auf der Straße lebende Wohnungslose nur einen kleinen Teil der Zielgruppe aus. Wohnungslose Menschen werden von der Gesellschaft ausgegrenzt und versuchen daher oft, unsichtbar zu bleiben. Nur "alte Hasen" der Wohnungslosenhilfe erkennen in dem Anzug tragenden Mann mit Aktentasche, der stundenlang in der S-Bahn umherfährt, den wohnungslosen Menschen, der so seine Zeit totschlägt. Dieses Unsichtbarmachen trifft im Besonderen auf wohnungslose Frauen zu, die häufig verdeckt wohnungslos leben und angebotene professionelle Hilfen aus Scham nicht annehmen. Die Unkenntnis auch vieler politisch Verantwortlicher ist umso erstaunlicher, als Ursachen, Folgen und Rahmenbedingungen von Wohnungslosigkeit relativ gut erforscht sind. Forderungen nach einer Wohnungsnotfallstatistik und einer darauf aufbauenden nationalen Strategie zur Überwindung von Wohnungslosigkeit und der Entwicklung gezielter Präventionsmaßnahmen werden weitgehend ignoriert. So laufen unter anderem die entsprechenden Forderungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) seit Jahrzehnten ins Leere, oder Anträge der jeweiligen Oppositionsparteien werden, wie 2013 im Bundestag und im Land Berlin geschehen, abgelehnt.[1] Auf der anderen Seite existiert in Deutschland, vor allem in den größeren Städten mit ihrer starken Anziehungskraft auf wohnungslose Menschen, ein vielfältiges Hilfesystem, das auf europaweit fast einzigartigen einklagbaren rechtlichen Ansprüchen basiert.
Der Hamburger Hauptbahnhof, morgens um halb acht. Vor dem Eingang gegenüber dem Schauspielhaus drängen sich hektisch Menschen aneinander vorbei, stocken kurz vor der Anzeigetafel und hasten weiter. Unter dem Vordach ist klassische Musik zu hören, Sicherheitsleute der Deutschen Bahn patrouillieren. Auf der anderen Straßenseite stehen in den Bushäuschen abgerundete Sitzbänke und unweit davon einer der neuen Solar-Abfalleimer der Hansestadt. Klingt nach einer nichtssagenden Ortsbeschreibung? Das kommt auf die Perspektive an: Die Musik dudelt nicht nur vor sich hin - sie soll Obdachlose und Trinker vertreiben. Die privaten Sicherheitskräfte, die das Hausrecht für das Gelände von der Stadt übernommen haben, können Platzverweise gegen Menschen aussprechen, die einfach nur auf dem Boden sitzen. Die Bänke in den windgeschützten Bushäuschen sind so gestaltet, dass sie ein längeres Verweilen quasi unmöglich machen. Bei den insgesamt 160 neuen Mülleimern verhindert eine Klappe, dass Pfandsammler hineingreifen können.
Das war gut eben, ein Kaffee zum Feierabend im Cafe Manstein am Lietzensee. Seele baumeln lassen, das taten viele, bei immerhin 20 Grad in der Abendsonne.
Die Wetterprognosen für die nächsten Tage übertreffen und überschlagen sich, 25 Grad zur Mitte der der Woche, über 30 Grad zum Wochenende.
Alle sind happy, alle wollen raus, raus an die Sonne.
Alle?
2000 – 4000 Menschen, niemand vermag das richtig einzuschätzen, leben in Berlin auf der Straße, übernachten im Freien, jede Nacht. Im Winter stehen ihnen ca. 500 Notübernachtungsplätze zur Verfügung, im Sommer ca. 100. Wie hat man sich das vorzustellen? Campen am See, Urlaub, Müßiggang, relaxt in der Sonne sitzen, kein Alltagsstress? Ich würde es den Wohnungslosen gönnen, die Wirklichkeit ist aber eine andere: Überlebenskampf, Stress, Bedrohungen, Mängel, Angst, Hoffnungslosigkeit, Krankheit, Ausgrenzung, Tod, vieles mehr. Ich beschreibe hier nicht die Sonnenseiten des Lebens.
Stirbt ein wohnungsloser Mensch im Winter an den Folgen der Kälte, so erlangt er Ruhm als sogenannter Kältetoter, im Sommer wird das Sterben ausgeblendet, niemand nimmt Notiz davon. Es fehlt an allen Ecken und Kanten: Bekleidung, Essensspenden, Geld für Hilfen, Schlafsäcken oder zumindest Decken.
Heute früh fuhr ich mit dem Roller zur Arbeit zur Bahnhofsmission Zoo. Ich wohne nur ein paar Minuten entfernt, habe also einen kurzen Weg. Es war Sch…kalt – und zwar um 8.00. Ich versuche mir dann oft vorzustellen, wie wohl die letzte Nacht für Menschen war, die im Tiergarten genächtigt haben, unzureichend bekleidet, ohne gemütliches Bett, ohne eine wärmende Decke. Meine Fantasie kommt der Wirklichkeit dann vermutlich nur unzulänglich nahe, Sie werden meine Einschätzung aber teilen, das ist dann weder gemütlich noch romantisch. Nicht selten ist das gefährlich. Leicht erlangt man eine Erkältung, kann diese dann auch nicht entsprechend auskurieren, es folgt eine Lungenentzündung. Grundsätzlich bedenklich, aber das kriegt man schon hin, Sie oder ich, wir – mit Wohnung und guter Versorgung und netten Menschen, die uns dann beistehen. Für Kalle, Kathie, Bernadette und Ronny ist das aber lebensbedrohlich.
Hilfsorganisationen, der Senat, Medien konzentrieren ihre Hilfen auf die Wintermonate. Prima und wirklich danke! Bei jährlichen Steigerungsraten der Wohnungslosenzahlen von 10-15% gibt es in den letzten 10 Jahren aber kaum Erhöhungen der Hilfsangebote in den Sommermonaten, nein, seit 10 Jahren wird nicht gekürzt, das moderate Wort heißt Abschmelzen. Was aber zunahm, waren die Hilfen der Bürger, Ihr Mitfühlen, Ihre Tatkraft. Enorm – auch hierfür danke!!!
Jedes Jahr um die 4000 Schlafsäcke, die schützen, zu erhalten, ist schwer, das Thema ist etwas abgenudelt, nicht aber die Notlagen. Zum Teil erhalten wir in der Bahnhofsmission Zoo diese aus Australien, Athen, Liechtenstein und dem gesamten Bundesgebiet.
Überwiegend aber aus Berlin.
Auch in diesem Jahr, eben auch speziell im Sommer ist bitte erneut Ihre Hilfe, Unterstützung gefragt, wir, unsere Gäste, vertrauen darauf.
Haben Sie keinen gebrauchten Schlafsack, ist Ihre Fantasie gefragt, fragen Sie bitte Tante Uschi, Ihre Nachbarn, Ihre Arbeitskollegen.
Bilden Sie Netzwerke.
Helfen macht glücklich – probieren Sie es aus.
Wir sehen uns in der Bahnhofsmission Zoo – herzlichst – Dieter Puhl
Knapp 20.000 Menschen waren im vergangenen Jahr in Nordrhein-Westfalen einer neuen Erhebung zufolge obdachlos. Das entspricht der Größe einer Kleinstadt, wie aus den Zahlen der am Dienstag veröffentlichten Wohnungslosenstatistik des Sozialministeriums hervorgeht.Fast drei Viertel der Betroffenen, die entweder in Obdachlosen-Unterkünften oder bei Bekannten untergekommen waren, sind männlich, jeder Zehnte ist unter 18 Jahren, fast jeder dritte hat einen Migrationshintergrund.